Früchte aus dem Steinzeitwald, Tages-Anzeiger, 19. März 2014

Die uralten Föhren, die 2013 auf einer Baustelle im Binzquartier gefunden wurden, halten, was sich die Forscher von ihnen versprachen: Sie lassen auf die Zeit nach der letzten Eiszeit schliessen.

 Von Helene Arnet

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Baumarchiv: Die Baumscheiben werden an der WSL sauber beschriftet und archiviert, denn Wissenschaftler von weitherum interessieren sich für diesen Fund. (Bild: Reto Oeschger)

Baumarchiv: Die Baumscheiben werden an der WSL sauber beschriftet und archiviert, denn Wissenschaftler von weitherum interessieren sich für diesen Fund. (Bild: Reto Oeschger)

Birmensdorf- Von dem Stapel aus lehmverschmierten Baumstrünken steigt ein angenehm harziger Geruch auf. Es riecht wie in einem stark besonnten Nadelwald. Obwohl dieser Geruch ganz und gar gegenwärtig ist, entstammt er der Mittelsteinzeit. Wir stehen in den Überresten eines uralten Waldes; diese Föhren wuchsen vor 13 400 Jahren. Es braucht viel, bis Ulf Büntgen das Wort «Sensationell» über die Lippen kommt. Büntgen ist Paläoklimatologe an der Eidgenössischeil Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in Birmensdorf. Seine Begeisterung war zwar gross, als Kollege Daniel Nievergelt im letzten Frühling im Lehm einer Grossbausteile im Stadtzürcher Binzquartier F.hrenstrünke entdeckte, die, wie sich herausstellte, aus dem Ende der ·letzten Eiszeit stammen. Doch temperierte er allzu hochtrabende Erwartungen: Man müsse erst die ‘Resultate der Jahrringanalysenund Cl4-Messungen abwarten, bevor man wissenschaftlich fundierte Rückschlüsse ziehen dürfe. Nun sind solche Resultate da. Und sie sind laut Büntgen «sehr interessant». Für einmal macht die Quantität einen grossen Teil der Qualität aus: 256 Strünke wurden aus der Lehmschicht am Fusse des Uetlibergs geborgen, gut 200 hat das Jahrringlabor der WSL bereits gemessen. Die älteste dieser Föhren war 550 Jahre alt, als sie vom Schlamm zugedeckt wurde – ein .Methusalem im Vergleich zu heutigen Nachfahren. Nievergelt: «Das waren keine mickrigen Sträucher, die dem unwirtlichen Klima trotzten, sondern grosse, vitale Bäume.»

Was Büntgen und Nievergelt verblüfft,  ist nicht nur das Alter dieser Bäume.  Ihre Jahrringe weisen markante Übereinstimmungen  auf, die aufunterschiedlich  alte Gruppen, also Wälder, schliessen  lassen. Diese decken eine Zeitspanne  von 2000 Jahren nach der letzten Eiszeit  ab. Wir haben es also nicht mit einem  einzigen Wald zu tun, sondern mit mehreren  Bewaldungsphasen.  Wo liegt der Grund für dj.eses periodische  Wachsen und Absterben? Ein  plötzliches Ereignis wie ein Vulkanausbruch?  Ein Erdbeben, das am Uetliberg  eine Schlammlawine auslöste? Oder verlandete  der Talboden nach der Gletscherschmelze,  sodass der BinzwäJd im  Schlick des Seeufers versank?  Vielleicht findet sich die Antwort in  einem Labor in Kopenhagen. Es ist darauf  spezialisiert, DNA von verstorbenen  Organismen zu bestimmen. Und bereits  die ersten drei Holzproben, die dort  untersucht wurden, waren Treffer. Alle  enthielten tatsächlich noch DNA. Das  übertreffe alle Erwartungen, sagt Büntgen.  Um gleich wieder zu relativieren:  «Wir brauchen zusätzliche Tests, um sicher  zu sein, dass diese alte DNA nicht    von Verunreinigungen stammt.» Stammt  diese DNA tatsächlich von den Binzföhren,  kommen weitere Spezialisten iQs  Spiel. Einer von ihnen ist Felix Gugerli.  Der Biologe arbeitet ebenfalls an der  WSL. Eigentlich wollte er sich nicht weiter  mit alter DNA beschäftigen, «doch  dann kamen diese Binzhölzer – und erst  noch in dieser Menge». Gugerli will mittels  genetischer Untersuchungen herausfinden,  woher diese Bäume nach der  Eiszeit die Schweiz eroberten. Und ob  der Wald über längere Zeit verkümmerte  und wieder auflebte oder ob die Föhren  nach dem Absterbenjeweils wieder neu  von weiter her «einwanderten». Im ersten  Fall würden die Hölzer ähnliches  Erbgut aufweisen, im zweiten deutlich  unterschiedliches.  Solche Mutmassungen geben wiederum  Klimatologen wie VIfBüntgen Stoff  zum Nachdenken. Haben wir es mit  unterschiedlichen Wäldern zu tun, weist  das auf eine plötzlich eintretende Umweltkatastrophe  hin. Stimmt aber die  DNA der verschiedenen Holzgruppen  überein, handelte es sich möglicherweise  um eine langsam fortschreitende  Umweltveränderung.

Die Binzhölzer geben noch einer weiteren  Forschungsrichtung Schub: der C14-  Datierung. Mit der Methode kann aufgrund  der Konzentration des Radiokohlenstoffs  C14 in organischem Material  festgestellt werden, -wann ein Organismus  abgestorben ist. An der ETH Zürich  arbeitet ein internationales Forschungsteam  auf diesem Gebiet. In diesem Labor  wurde das Alter von Ötzi, des Turiner  Grabtuchs oder des Bundesbriefs ermittelt.  Und eben auch jenes der Binzhölzer.  ETH-Chemiker Lukas Wacker  sagt: «Diese Binzfunde sind von sehr  grosser Bedeutung für uns, da sie in eine  Zeit fallen, in der wir noch nicht sehr  präzise Angaben machen können.» Für  eine genaue C14-Datierung muss nämlich  die C14-Konzentration in der Atmosphäre  zu dem Zeitpunkt bekannt sein,  in dem der Organismus abgestorben ist.  Gerade in der spätglazialen Zeit der  Binzhölzer aber klafft eine Lücke von  rund 1000 Jahren, aus der keine Hölzer  verfügbar sind, die eine Rekonstruktion  dieser atmosphärischen C14-Konzentration  zulassen. · ·  Gelänge es nun, diese Lücke in der  Jahrringchronologie mithilfe der Binzhölzer  zu schliessen, könnte auch der  ungenügend geeichte Zeitstrahl der C14-  Messungen verbessert werden. Was wiederum  genauere Datierungen unzähliger  Fundgegenstände erlauben würde.  «Die Chancen dazu stehen sehr, sehr  gut», sagt Wacker. Worauf Ulf Büntgen  erwidert: «Das wäre sensationell.»